Pia Heckes, 13. März 2013

Vortrag in Alt St. Martin

Zur ältesten Geschichte von Alt-St. Martin

Altbekanntes und weniger Bekanntes in neuen Zusammenhängen gesehen

Dieser Vortrag fasst vieles zusammen, was sich über die Geschichte von Alt St. Martin bereits im Text zur Geschichte Muffendorfs an verschiedenen Stellen findet. Doch ist hier der Schwerpunkt gelegt auf die Antike und das frühe Mittelalter; auf die Fragen, die sich daraus ergeben, dass sich die erste urkundliche Erwähnung der Kirche im Jahr 913 auf eine bereits bestehende Kirche bezog. Und darauf, welche Fragen sich aus Baubefunden, archäologischen Funden und anderen Hinweisen ergeben, das versucht der Vortrag zu beleuchten. Daher haben wir uns entschlossen, den Vortrag anlässlich des 1100jährigen Jubiläums der ersten urkundlichen Erwähnung der Kirche ebenfalls ins Netz zu stellen.

Über Alt St. Martin ist in den bekannten baugeschichtlichen Nachschlagewerken (Dehio Rheinland) nicht viel zu finden. Wenige Eckdaten sind genannt:
Ursprungsbau: fränkische Saalkirche mit flacher Decke, um 1200/1220 Erweiterung des Baus um ein Schiff, Material Tuff und Trachyt. Massiver Westturm, Ostapsis mit vorgelagerter Vierung. Aus der Zeit um 1220: Hauptaltar, Sakristeitür mit eisernen Beschlägen, Taufstein. 1635 ein wesentlicher Umbau der Kirche. 1910 Sanierung, 1963 Sanierung. Und das war es dann auch schon im Wesentlichen.

Herbert Strack hat aber 1988, 2. Auflage 1999, eine Broschüre verfasst, die zuverlässige Informationen bietet (Strack, Herbert: Die alte Sankt-Martins-Kirche zu Muffendorf, VHH Bonn Bad Godesberg, 2. Aufl. 1999).

Und eben diese Broschüre war es, die mir Anlass geboten hat, einzelnen Fragen, die sich gestellt haben, nachzugehen. Fragen, die weder durch Archivmaterial noch durch andere Fakten leicht zu beantworten sind.

Grundsätzlich besteht das Problem, dass wir keine bauarchäologische Untersuchung zu Alt St. Martin besitzen. Ebenso wenig wie systematische archäologische Grabungen stattgefunden haben. Schon beim genaueren Betrachten der Wände sieht aber auch das ungeübte Auge, dass sich in den Mauern manche Baudetails verbergen, die zu unterschiedlichen Bauphasen gehören. Und die bei genauerer Untersuchung sicher vieles über frühere Bauzustände, und damit über die Geschichte der Kirche, verraten können.

Aber was können wir heute über Alt St. Martin wissen, ohne dass die Kirche selbst bauarchäologisch seziert werden muss? Jede Untersuchung bedeutet auch Verluste historischer Substanz und ist nur möglich, wenn es einen Anlass wie schwere Bauschäden z.B. gibt – deshalb folgen jetzt die theoretischen Überlegungen.

Zuerst will ich einige Zitate voranstellen.:

Zitat Nr. 1: „Muffendorf war eine königliche Villa der Karolinger“

Nr. 2: „Die alte (Muffendorfer) Kirche ist eine der ältesten des Rheinlands“
(beide Zitate: German Hubert Christian Maaßen, Geschichte der Pfarreien des Dekanates Bonn, 1898, Bd. II, S. 286 und S. 299).

Zitat Nr. 3: Urkunde vom 16. Juni 913
„Kund sei allen Gläubigen, den gegenwärtigen, wie den zukünftigen, auf welche Weise ich Guntbald, unwürdiger Presbyter, aus dem Besitz des Klosters, das innerhalb der Mauern der Stadt Weilburg; erbaut und zur Ehre der heiligen Gottesmutter und der heiligen Jungfrau Walburga geweiht ist, mit gnädiger Erlaubnis des allerfrömmsten Herrn, des Königs Konrad, und ebenso auch im Einverständnis des Propstes und der anderen Brüder, die Gott und seiner heiligen Gebärerin und der heiligen Jungfrau Walburga dort dienen, zwei rechtmäßige Kirchen empfangen habe, die eine in dem Dorfe Bredebach, im Perfgau, in der Grafschaft Eberhards, die andre in einem Dorfe, Muffendorf genannt, im Gau Punneguwe, in der Grafschaft eines andern Eberhardt, und zwei andre dazu gehörigen Kirchen.
Dagegen aber habe ich übergeben und geschenkt an die oben erwähnte Stelle, was ich an Eigentum damals zu besitzen schien in dem vor genannten Dorf Bredebach und in einem andern, welches Gladebach heißt, mit 42 Leibeignen, beiderlei Geschlechts, natürlich in der Absicht, daß ich ohne irgend eines Widerspruchs dies alles oben Genannte, und was es wächst und zunimmt inne habe und besitze auf die Zeit meines Lebens, daß aber nach meinem Tode das Ganze durch Gottes Hilfe verbessert an dasselbe Kloster und in die Nutznießung der Länder unversehrt zurück fallen soll.
Ich, Kanzler Salomon, habe es geschrieben. Geschehen am 16. Juni des Jahres 913, der Fleischwerdung des Herrn“ (nach: Ostrowski, Ursel: Evangelische Kirche zu Breidenbach, Breidenbach 2000. „Das Walpurgisstift in Weilburg war ein Benediktiner-Kollegiatstift, das von 912 bis 1555 bestand. Ihm war eine bedeutende Stiftsschule angefügt. Im Jahr 912 gründete der im Jahr zuvor zum König des Ostfrankenreichs gewählte Konrad I. zum Andenken an seinen im Jahre 906 bei Fritzlar in der Babenberger Fehde gefallenen Vater Konrad den Älteren ein Chorherrenstift und ließ neben dem Weilburger Königshof die kleine Stiftskirche St. Walpurgis errichten, die der Jungfrau Maria und der Heiligen Walpurgis geweiht wurde und wohl eher eine Kapelle war. In den folgenden Jahren stattete Konrad das Stift mit reichem Besitz aus eigenem und Königsgut aus, so z.B. im April 914 mit der Taufkirche in Haiger mit Gütern und Zehnten sowie dem Königshof Heigera und im Jahre 915 mit der „Villa Nassova“, dem Königshof in Nassau nebst umfangreichem Grundbesitz. In Anlehnung an das auf der Ostseite des Mühlberges über der Lahn gelegene Stift und den südlich angrenzenden ehemals konradinischen Wirtschaftshof entstand die spätere Stadt Weilburg.“ Wikipedia, Stift Weilburg.)

Wie verhalten sich diese beiden Zitate zueinander? Was können wir daraus – und aus anderen Nachrichten zur Geschichte von Alt St. Martin erfahren?

Zum einen: die Kirche hat seit altersher Menschen in ihren Bann gezogen. Über diese Kirche und die Landschaft am Rhein schreibt Paul Ortwin Rave 1922: „Um bedeutend zu wirken, bedurfte es keines größeren Aufwandes in einer Landschaft, in der, wie Wilhelm Heinse 1780 in einem Brief von seiner Rheinreise schreibt, der Strom ‚wie ein lichtheller Greis im Silberhaar von lustigen Rebenhügeln gleich jungen Liebesgöttern umwimmelt daliegt’. So haftet selbst so winzigem Kirchlein wie der Muffendorfer bei Godesberg im Angesicht der Sieben Berge eine achtungsgebietende Würde an...“ (Rave, Paul Ortwin: Romanische Baukunst am Rhein, Bonn 1922, S. 12, Abb. 50). Rave war einer der bedeutendsten Bauhistoriker des 20. Jahrhunderts.

Diese Würde des Alters und der Besonderheit ist noch heute zu spüren. Und die wesentliche Tatsache, die wir der Quelle aus 913 entnehmen können, ist banal: die Kirche bestand bereits 913. Und hatte der Quelle zufolge zwei dazugehörige weitere Kirchen. Welche das waren, wissen wir nicht. Vielleicht resultierte aus diesem Faktum aber der stete Ärger mit der Mehlemer Kirche um das Vorrecht?

Gehen wir aber noch weiter zurück in der Geschichte: Fangen wir mit der Antike an: Soweit nicht Quellentexte antiker Schriftsteller oder Historiographen überliefert sind, ist man auch hier auf die Erforschung von Bodenfunden angewiesen. Bodenfunde aus dem Spät-Latène, die beim Bau der Elisabeth-Mayer-Straße ergraben wurden, beweisen, dass schon im 1. Jahrhundert v. Chr. sich in Muffendorf ein durch einen Graben befestigter Hof befand (RhAB, Ortskartei). Kelten lebten hier, wahrscheinlich Eburonen.

Cäsars Legionen eroberten Gallien bis zum Rhein hin (58 bis 51 v. Chr.), verdrängten die um Bonn herum lebenden Eburonen, forcierten die Zuwanderung der Ubier. Insbesondere die Legio Prima Minervia (Legio Prima Flavia Minervia Pia Fidelis Domitiana), die im Jahre 83 unter Kaiser Domitian nach Bonn verlegt wurde und über 200 Jahre lang die Kultur der Stadt und der engeren Region prägte, hat ihre Spuren hinterlassen, genetisch ebenso wie kulturell lange nachwirkend. Franken folgten und hinterließen ihre Spuren ebenfalls in der „Völkermühle am Rhein“, wie Carl Zuckmayer (Des Teufels General) das Rheinland nannte.

So fand man folgerichtig auch römische Spuren bei der Sanierung von Alt St. Martin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im nördlichen Seitenaltar der Kirche, wie Strack schreibt, war ein römischer Weihestein mit Inschrift vermauert, den man aus der unmittelbaren Nähe herangeschafft hatte. Wahrscheinlich ist er aber nicht nur wegen des Steinmaterials im Altar vermauert worden, sondern um den von den mittelalterlichen Christen bekämpften Götzendienst an einem römischen Altar zu unterbinden. Dies geschah, in dem man die Weihestätte christlich überformte und den Stein, der einstmals nach dem Willen des Stifters, Gaius Scribonius, den Weiheplatz markierte, zum christlichen Altar umwidmete, so dass seine einstige Funktion nicht mehr erkennbar war und er dem neuen christlichen Kultus zu dienen hatte. (Die Nachbildung des Steins steht heute in der Grünanlage am Remi-Baert-Platz, das Original befindet sich im LVR Rheinischen Landesmuseum in Bonn.)

Der nördliche Seitenaltar existiert heute nicht mehr, er wurde ebenso wie der südliche Seitenaltar bei der Sanierung nach 1910 abgebrochen. Beide Seitenaltäre entsprachen dem Brauch, an zahlreichen Altären in den Kirchen des Mittelalters zu zelebrieren, die den verschiedensten Heiligen geweiht waren. Die Altarmensen der beiden abgebrochenen Altäre befinden sich noch heute auf dem Friedhof der Kirche. Sie liegen beide in der Nähe des Kirchturms und sind zu erkennen durch die sehr dunkle Farbe des Steins und durch die eingemeisselten Kreuzzeichen in den Ecken der Mensen. Wahrscheinlich gehörten beide Seitenaltäre noch zu den ältesten Teilen der Kirche, wofür auch der eingemauerte Weihestein spricht.

Warum?

Wie kam der Diana-Stein hierher?

Auf beide Fragen gehe ich später noch ein. (Eine Nachbildung des Steins steht heute im kleinen Park unterhalb des Gefallenenmals, Sie sind sicher schon oft daran vorbeispaziert. Das Original befindet sich sich im Rheinischen Landesmuseum in Bonn.)

Alt St. Martin befindet sich auf einem kleinen Geländesporn. Von hier aus hatte man in der Antike sicherlich einen freien Blick über das Rheintal, das durch intensive Beweidung und wirtschaftliche Nutzung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wenig bewaldet gewesen ist. Dies zeigen alte Luftbildaufnahmen aus den 1930er Jahre (Hansa-Luftbilder, Bez.-Reg. Köln, Geodienst, Archiv). Der freie Blick wird eine wesentliche Rolle für die Standortentscheidung eines römischen Tempels oder eines römischen Landgutes gespielt haben. Ist doch für das 3./4. Jahrhundert ein antiker Burgus auf dem Godesberg archäologisch nachgewiesen, der wahrscheinlich Signalfeuer getragen hat. So konnte man vom Standort der heutigen Kirche Alt St. Martin aus stets über wichtige Vorgänge durch optische Nachrichtenübermittlung informiert sein. Ein strategisch günstiger Ort, den die Menschen seit der Antike zu nutzen wussten.

Im „erhabenen Angesicht der Berge des gegenüberliegenden Siebengebirges“ (Rave) mag daher ein römischer Tempel oder eine Villa mit Weiheplatz in dieser Lage gut vorstellbar sein. Es gibt verstreut einzelne archäologische Hinweise auf das römische Muffendorf: Bereits im späten 19. Jahrhundert erwähnt Alfred Wiedemann zahlreiche Bruchstücke römischer Ziegel und Gefässe in den Weinbergen und Aeckern, so dass hier, am Standort der Kirche, wohl eine römische Ansiedlung gelegen haben wird. Die Bruchstücke hätten sich „an der linken Seite des Fusspfades, der zu Muffendorf oberhalb des Dorfes von dem Schulhause (gemeint ist hier das alte Schulhaus in der Martinstraße) aus nach Süden führt, etwa halbwegs nach der von der ehemaligen Commende nach dem Haiderhof hinauf führenden Einsattelung,“ (BJb 90, S. 203) befunden. Leider ist der Fundort nicht genauer bezeichnet. Auch in den Unterlagen des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege in Bonn (RhAB) findet sich dazu nichts Ergiebigeres. Nach der Beschreibung könnte es sich um den Hang unterhalb des Friedhofes handeln. Römische Funde sind dort in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gemeldet worden. Die Funde römischen Materials in einer Baugrube in der Muffendorfer Hauptstraße (ca. 1933, RhAB) und am Hang unterhalb der Elisabethstraße (BJb 139, S. 210) sowie oberhalb des Lyngsberges (ebenfalls in den 1930er Jahren gefunden, RhAB) beweisen aber die Anwesenheit römischer Siedler in Muffendorf. Groeteken erwähnt in seiner „Geschichte Godesbergs“ (1956, Teil II), dass sich bei Ausschachtungsarbeiten in Muffendorf Reste einer befestigten Römerstraße gefunden haben, die über Muffendorf Richtung Lannesdorf geführt haben soll. In den Unterlagen des Rheinischen Amtes für Bodendenkmalpflege findet sich dazu leider nichts. Aber in älterer Zeit ist nicht alles an der richtigen Stelle dokumentiert worden.

In diesem Zusammenhang muss das Jahr 310 erwähnt werden, als Konstantin der Große, mit dem das Christentum Einzug hielt, in Köln eine Brücke über den Rhein schlagen ließ, um die beiden großen Römerlager Köln und Deutz miteinander zu verbinden. Dies steht nicht in einem direkten Zusammenhang mit Muffendorf, macht aber deutlich, wie sehr das engere Rheinland rings um Köln in den Fokus der römischen Herrschaft gerückt war. In das erste Drittel des 4. Jahrhunderts werden die ersten Bischofsweihen datiert, so die Weihe des Maternus († 328), der als der erste Bischof von Köln gilt. Um 400 begann der Niedergang der römischen Provinz Germanien durch die Verlagerung großer Truppenteile nach Italien, was das Land am Rhein schwächte und Möglichkeiten für Übergriffe eröffnete (vgl. Corsten 1964, S. 87 ). Das Ende der Römerherrschaft im Rheinland kam mit dem Jahr 451, als die Hunnen plündernd und mordend den Rhein entlang zogen. Von diesen Hunnenzügen existieren bisher tatsächlich keinerlei archäologische Befunde. Das ist seltsam. Aber eine Folge war, dass die römische Herrschaft gebrochen war, und die Franken aus dem Dunkel der Geschichte auftauchten, die nach Gallien und Germanien eingewandert waren. (Ein recht anschauliches Bild, soweit die spärlichen Quellen aus der Zeit dies zulassen, findet man bei Becher 2011, der auch die Reihe der Frankenkönige von Gennobaudes (um 289) bis hin zu Chlodwig aufzuzeigen weiß, S. 113.)

Die fränkischen Merowinger wurden zu den Herrschern der ehemals provinzialrömischen Gebiete der Belgica II (secunda) und wenig später der Germania I (prima), und so gelangen wir von der Antike in die Spätantike bzw. ins frühe Mittelalter: Und nun wird es wieder sehr interessant für die Geschichte von Alt St. Martin.

Ebenfalls bei der Sanierung von Alt St. Martin nach 1910 fand man unter dem alten Fußbodenbelag, der weitgehend aus relieffierten steinernen Grabplatten der Neuzeit bestand, eine Reihe von fränkischen Gräbern, über denen das erste Kirchengebäude errichtet worden war. Die stark abgetretenen Grabplatten wurden entlang der östlichen Kirchhofsmauer aufgestellt, wo sie heute noch zu sehen sind . Unterhalb dieser fränkischen Gräber wiederum waren nach Groeteken Reste eines römischen Estriches gefunden worden, was dafür spricht, dass tatsächlich fränkische Nutzung auf römischen Bauresten stattgefunden hat (Groeteken 1956 II, S. 50).

Dies wirft Fragen auf, die zu beleuchten im Folgenden etwas weiter ausgeholt werden muss. Leider besitzen wir aber keine archäologischen Nachweise für diese Epochen und Funde, von denen Groeteken berichtet. Aber ich bin an dieser Stelle nicht bösgläubig, denn warum hätte Groeteken solche Funde erfinden sollen? Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Zu der Frage eines Gräberfeldes schreiben Ennen und Höroldt: „Die Lage [einer Kirche] auf einem Gräberfeld ist typisch für eine über den Gräbern der Vorfahren errichtete Eigenkirche...“ (1976, S. 33). Also einer Eigenkirche eines fränkischen Noblen. Und „die Besitzfolge König, Adeliger, geistliches Institut findet sich oft...“ (Ennen/Höroldt 1976, S. 33). Das könnte demnach durchaus auch für Alt St. Martin in Muffendorf gelten.

Das Martinspatrozinium gehört zu den ältesten Patrozinien, insbesondere Clothilde (Chrodechild von Burgund, *474 †544), Gattin des Frankenkönigs Chlodwig (*466 †27.11.511), stiftete zu Beginn des 6. Jahrhunderts zahlreiche Kirchen, oftmals bei den Königsgütern, die dem Hl. Martin von Tours geweiht waren. (Zum Einfluss der Chrodechild und des Hl. Martin von Tours sowie die zeitpolitischen Umstände liefert Becher 2011 sehr ausführliche Informationen: S. 167 ff.)

Von St. Martin in Bonn, einem romanischen Kleinod, das 1804 abgerissen wurde, haben Sie alle schon einmal etwas gehört. Übrig geblieben von diesem Bauwerk ist nur der angedeutete Grundriss im Pflaster auf dem Bonner Martinsplatz. Die Dietkirche, deren Reste 1971 bis 1973 im ehemaligen Römerlager in Bonn ergraben wurden, geht wahrscheinlich auf das 6. Jahrhundert zurück (Ennen/Höroldt, 3. Aufl. 1976, S. 28). St. Martin in Düsseldorf-Bilk soll bereits 704 selbständige Pfarrkirche geworden sein. (Dort war übrigens sein gesamtes priesterliches Leben lang der Forscher Anton Joseph Binterim Pastor, dem wir so viele Kenntnisse mittelalterlicher Quellen verdanken, aber dies nur am Rande.)

Ob auch die Muffendorfer Kirche mit der Zeit Chlothildes in Zusammenhang steht, ist urkundlich nicht belegt. Wie wir ja überhaupt aus dieser Zeit nur sehr wenige schriftliche Quellen besitzen. Aber der Fund der fränkischen Gräber im Horizont zwischen dem barocken Fußboden und dem römischen Estrich beweist, dass ein Grabmonument oder ein nachantiker Weiheplatz bereits lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung der Kirche im Jahr 913 bestanden haben muss. Für den Übergang von der Antike zum Mittelalter bzw. in die Spätantike ist die Forschung bisher davon ausgegangen, dass Christen bereits sehr früh in Bonn nachgewiesen werden konnten. Bei archäologischen Grabungen fand man eine Glasschale mit christlichen Motiven, die sich in die Mitte des 4. Jahrhunderts datieren lässt. Grabungen am Bonner Münster haben ergeben, dass bereits um 350 für Bonn eine christliche Kirche, eine Cella Memoriae, nachzuweisen ist. Der Bezug zur Hl. Helena, die als Gründerin des Cassiusstiftes überliefert ist, wird somit über den zeitlichen Horizont der Funde des antiken Christentums im Rheinland untermauert.

Jetzt wieder zurück zum Zeitalter Chlodwigs: Die Schlacht bei Zülpich im Jahr 496/498 kann getrost als Markierungspunkt zweier Epochen (für die Geschichtsschreibung) im Rheinland gesehen werden. (In der neueren Forschung gilt diese Datierung als umstritten.

Es werden Daten zwischen 496 und 498 genannt, vgl. Rheinische Geschichte, Matthias Becher, 2012.)

Zum einen als das Ende der Antike, zum anderen als der Beginn der christlichen Frankenzeit. Wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass der Übergang ein fliessender war, keinesfalls eine eindeutige Zäsur. Dennoch markiert diese Schlacht einen wichtigen Punkt in der Spätantike. Denn mit Chlodwig und seiner Frau Chrodechild (also Clothilde), auf welche die Gründung zahlreicher Kirchen im Rheinland zurückgeht, beginnt ein neues, christlich geprägtes Zeitalter für das Land am unteren Rhein, zwischen Köln und Reims (vgl. Becher 2011). Die „fränkische Landnahme“ beginnt, Severin Corsten hat diese frühe nachantike Zeit insbesondere mit dem Augenmerk auf fränkische Herrschaftsstrukturen untersucht und kommt zu dem Schluss, dass es bereits im 5. Jahrhundert am Rhein einen grundbesitzenden fränkischen Adel gegeben haben muss (1964, S. 91).

Der Heilige Martin von Tours wird in dieser Zeit zum wirkmächtigen Königs- und Reichspatron. Das Land „Ripuarien“ am Ufer des Rheins beginnt Gestalt anzunehmen, ein merowingisches Reich zwischen Vinxtbach im Süden (der Bach mündet bei Bad Breisig in den Rhein) und Neuss im Norden, das in etwa der römischen Civitas Colonia (Köln) entsprach, wie Eugen Ewig schreibt (Die Stellung Ribuariens in der Verfassungsgeschichte des Merowingerreiches, Bonn 1969, S. 1 ).

Austrasien (der östliche Teil des merowingischen Königreiches) war bis zu Beginn des 8. Jahrhunderts in fünf Dukate (Herzogtümer) unterteilt, von denen eines Ripuarien war, offenbar mit der Hauptstadt Köln und den Gauen Köln, Bonn, Jülich, Zülpich und Eifel. Für Bonn ist die mittelalterliche Bezeichnung Bonn-Gau (Punnegau) belegt. Hierzu gehörte eben auch Muffendorf.

Man muss sich diese Epoche vorstellen als eine Zeit, in der sowohl antike Traditionen wie auch germanisch-fränkische Kultur nebeneinander bestanden und miteinander verwoben waren, durchaus wahrscheinlich kam auch durch gallische Siedler eingebrachte gallische Kultur hinzu. Das Lateinische war immer noch Umgangssprache der gebildeten Stände, doch langsam vollzog sich der Glaubenswandel von den antiken oder paganen (heidnischen) Göttern hin zu dem Gott der Christen. Für die Stadt Köln ist diese Zeit der fränkischen Landnahme, die Zeit vom 5. bis zum 10. Jahrhundert, in vorbildlicher Weise neuerdings von Carl Dietmar und Marcus Trier dargestellt worden (Carl Dietmar und Marcus Trier „COLONIA – Stadt der Franken“, Köln 2011).

Hier wird ein plastisches Bild dieser Zeit im Rheinland gegeben, fundiert untermauert durch die Auswertung neuer archäologischer Untersuchungen. Eine Veröffentlichung, die längst überfällig war. Wir können uns nun ein Bild machen, zumindest vom merowingischen Köln.

Eugen Ewig sieht die Organisation des ripuarischen Herzogtums bereits bei Theudebert I. (*533 †547) oder sogar schon bei dessen Vater Theuderich I. (Chlodwigs ältester Sohn) als weit fortgeschritten an. Theudeberts Frau Wisigarde verstarb um 537. Es ist vermutlich ihr Grab, das bei archäologischen Untersuchungen unter dem Kölner Dom gefunden wurde. Die Grabbeigaben lassen den Schluss zu, dass hier eine fränkische Königin bestattet wurde, die Forschung geht heute davon aus, dass dies Wisigarde ist.

„Das Rätsel eines bedeutsamen Fundes bei den Ausgrabungen unter dem Dom konnte mit Hilfe einer DNA-Analyse geklärt werden.

In der Kölner Domschatzkammer ist die Ausstellung „Königinnen der Merowinger. Adelsgräber aus den Kirchen von Köln, Saint-Denis, Chelles und Frankfurt am Main“ eröffnet worden.

Im Jahr 1959 wurden unter dem Dom zwei Grabstätten der Merowingerzeit entdeckt, in denen eine junge Frau und ein etwa sieben Jahre alter Junge bestattet worden waren. Inzwischen ist belegt, dass es sich um Wisigarde, die Gemahlin des Merowingerkönigs Theudebert I., handelte (die beiden heirateten um 537/38) - und dass das Kind nicht ihres war. Unter den Grabbeigaben - die Ausstattung war fast komplett erhalten - fanden sich auch Handschuhe aus Leder, und die darin sichergestellten Spuren klärten die Familienverhältnisse.

Was den materiellen Wert angeht, sind die anderen Grabbeigaben allerdings wesentlich kostbarer. Schmuck aus Gold und mit kostbaren Steinen besetzt, kunstvolle Gläser und eine filigran gearbeitete Spinnwirtel zeugen von der hoch entwickelten Kunst jener Zeit. Das gilt auch für die textilen Funde, beispielsweise mit Tierdekoren verzierte Gürtel oder goldgestickte Borden eines Mantelkleids.

Ergänzt werden die Kölner Funde mit vergleichbaren aus Saint-Denis/Frankreich (Arnegunde, dritte Gattin König Clothars I.), Chelles/Frankreich (Bathilde, Ehefrau des westfränkischen König Chlodwig II.) sowie der Ausstattung eines Doppelgrabs für adlige Kleinkinder, das unter dem Frankfurter Dom freigelegt wurde. Auch die um 580 gestorbene Arnegunde wurde aufgrund von DNA-Untersuchungen identifiziert.

Königinnen der Merowinger. Adelsgräber aus den Kirchen von Köln, Saint-Denis, Chelles und Frankfurt am Main, Domkloster 4, bis 26. Mai 2013 täglich 10 bis 18 Uhr.“ Aus: Kölner Stadtanzeiger vom 12.3.2013

Theuderich und Theudebert sind auch in anderer Hinsicht beide für die Geschichte Kölns wichtig, denn sie ließen in Köln eine Münzstätte errichten, „solidi“ (Goldmünzen, Schillinge) mit dem Abbild dieser fränkischen Könige zeugen davon. In der älteren Literatur zu den Franken findet man eine Kontroverse um die Frage, ob es bereits im 5. oder 6. Jahrhundert einen grundbesitzenden Adel bei den Franken gegeben hat (Corsten, Severin: Rheinische Adelsherrschaft im ersten Jahrtausend, in: Rheinische Vierteljahresblätter 1963, S. 85, 86). Die neueren Funde fränkischer Gräber in Muffendorf (s.u.) am Lyngsberg mit wertvollen Grabbeigaben, u.a. Almandinen-Schmuckstücke, lassen zumindest für den angenommenen Bestattungszeitraum 6./7. Jahrhundert auf eine Schicht begüterter Franken schließen.

Auch das in seinen Grundzügen erhaltene spätantike Steuersystem, das später von den Merowingern übernommen worden war, erlaubt Rückschlüsse darauf, dass zu dieser Zeit ein gewisser Wohlstand im Reich der Franken herrschte (vgl. Becher 2011, S. 241.) Und dass es, belegt durch die Grabfunde, eine Schicht wohlhabender Franken in Muffendorf gab. Die Bevölkerungsdichte hatte etwa um die Mitte des 5. Jahrhunderts (Hunneneinfälle) ihren Tiefpunkt erreicht, wie Ewig schreibt. So konnten die einwandernden Franken sich die besten freien Siedlungsorte sichern, ohne eine Verdrängungspolitik Alteingesessenen gegenüber betreiben zu müssen. Ein Zusammenwachsen, ein Verschmelzen der romanischen mit der fränkischen Bevölkerung wird heute als gesichert angesehen.

Der Straßenbau und damit die Erschließung bzw. Umgehung auch der großen Wälder in der Umgebung Kölns, hier sei der Kottenforst als Beispiel genannt, spielte dabei eine zunehmend wichtigere Rolle. Wir kennen als südliche Grenze des karolingischen Wildbanns Kottenforst im 10. Jahrhundert eine Straße von Muffendorf nach Eckendorf, die in Eckendorf an die Aachen-Frankfurter Heerstraße angebunden war. Dies war die wichtigste mittelalterliche Straße, war sie doch gleichzeitig Krönungsstraße. Diese Straße am südlichen Rand des Kottenforstes hatte wahrscheinlich einen erheblichen Einfluss auf die Muffendorfer Geschichte, was aber an dieser Stelle zu weit führen würde, wenn ich das im einzelnen begründe. Sie können diesen Teil zur alten Straße von Eckendorf nach Muffendorf gerne auf der Muffendorfer Internetseite nachlesen. Dort ist das ausführlich erläutert. Merken muss man sich hier nur eines: Muffendorf lag für damalige Verhältnisse verkehrsgünstig und war erschlossen. Eckendorf wurde bereits um 770 namentlich erwähnt. Es liegt nahe, daraus zu schließen, dass es damals bereits die Straße südlich am Kottenforst vorbei gegeben hat.

In der Zeit um 700 sind im Bonner Umland zahlreiche Funde anglofriesischer Silberpfennige nachgewiesen. Ewig schließt daraus, dass die Friesen ihre Handelswege bis zum Rhein ausgedehnt hatten. Das Ripuarien des 7. Jahrhunderts scheint also ein lohnendes Ziel für die aus dem Frankenreich kommenden Händler gewesen zu sein. Dies setzt einen gewissen Wohlstand voraus. Woraus resultierte dieser Wohlstand? Er wird in erster Linie durch eine wohl organisierte Landwirtschaft entstanden sein, die sowohl durch Sklavenarbeit wie durch die Organisation in Herrenhöfe und abhängige Bauernschaft (Mansen) geprägt war. Die Herrenhöfe entstanden oft aus den Schenkungen königlicher „Villae“, also von Königsgütern. Diese Organisationsform erlebte unter den Karolingern dann eine Blüte (s. Ewig 1993, S. 179, 180), beginnend mit Pippin dem Mittleren (*um 635 †16. Dezember 714) und seiner Gattin Plektrudis († nach 717) (s. Dietmar/Trier, S. 179, 180, Köln 2011).

In der neueren Literatur wird vermutet, dass die alte Muffendorfer St. Martinskirche, die 913 zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde, aufgrund der fränkischen Grabfunde unterhalb des alten steinernen Kirchenbodens aber eine deutlich ältere Tradition hat, eine Fiskalkirche gewesen sei (van Rey 2001 , S. 35). Was immerhin auf einigen wirtschaftlichen Wohlstand in Muffendorf schließen ließe, denn die Fiskalkirchen konnten durch ihre Zehnteinkünfte ein Königsgut unterhalten. Für die Reisewege der (früh)-mittelalterlichen Könige mitsamt ihres bedeutenden Hofstaates hätten die Stationen von der wichtigen Pfalz Sinzig aus durchaus auch heißen können: Muffendorf, Flamersheim, Vlatten, Düren, Eschweiler, Aachen. Und Muffendorf wäre ebenso eine komfortable Etappe von Sinzig nach Bonn zum nächsten karolingischen Königshof gewesen, hätte also doppelte Funktion haben können. So wäre es durchaus wahrscheinlich, dass sich in dem von der Natur so verwöhnten Muffendorf bereits ein karolingischer Königshof befunden hat, wovon die ältere Literatur ausgeht.

Möglicherweise sogar, wie durch die oben erwähnte Geschichte der alten Muffendorfer St. Martinskirche gezeigt, ein merowingischer Königshof. Maaßen schreibt dazu: „Die unregelmäßige Verbindung [des Turms mit der Kirche] legt den Gedanken nah, daß in ältester Zeit noch ein anderes Gebäude, etwa der Sitz eines mittelalterlichen Ritters oder eines kirchlichen Officianten der Kirche angebaut war. Nach Lage der Sache könnte man auch an die königliche Villa denken, welche wegen ihrer urkundlichen Grundlage eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nimmt“ ( S. 299, 300). Die fränkischen Bestattungen, die man unterhalb des Kirchenfussbodens während der Restaurierungsphase nach 1910 gefunden hat, spielen nun für die Argumentation eine wesentliche Rolle, denn „in merowingischer Zeit ist es üblich, dass hochadelige Stifter in den von ihnen gestifteten Kirchen beigesetzt werden“( Ph. Hofmeister, Archiv für katholisches Kirchenrecht, zitiert nach Stadtspuren, Band 1, S. 344). Die Gräber sind leider, wie vieles andere im frühen 20. Jahrhundert, nicht dokumentiert worden. Daher ist nicht eindeutig nachzuweisen, dass es sich um Gräber christlicher Franken handelte. Aber dieser gesamte Zusammenhang lässt doch darauf schließen, dass wir es hier wohl mit einer sehr frühen, möglicherweise merowingischen Kirchengründung zu tun haben. Auch die später (888) bestätigte Aachener Nona, die von St. Martin in Muffendorf und von St. Dionysius in Vlatten über einen Zeitraum von nachweislich fast 800 Jahren gezahlt wurde, könnte ein Hinweis auf eine merowingische Vorgeschichte beider Kirchen sein. Denn sowohl Dionysius wie Martin waren fränkische Nationalheilige. Zahlreiche merowingische Könige wurden in der Abteikirche St. Denis (Dionysius) nördlich von Paris seit dem 6. Jahrhundert bestattet, die später zur bedeutenden Grablege der französischen Könige wurde.

Ungefähr 100 Jahre später, zur Zeit Dagobert I. (*um 608 †638/639) und des Kölner Bischofs Kunibert (*um 600 † 664), erlebte Ripuarien die Kodizifizierung von Recht. Eine erste geschriebene Gesetzessammlung (Lex ribuaria) entstand um das Jahr 633 (Ewig 1969, S. 29). Geht man davon aus, dass diese Jahre eine Zeit des relativen Friedens in Ripuarien gewesen sind, während wohl im gesamten Reich der Merowinger unsichere Machtverhältnisse ohne funktionierende Zentralverwaltung herrschten, vermag man sich durchaus vorzustellen, dass neben der verschriftlichten Rechtsetzung auch die Strukturierung des Landes eine gewisse Rolle spielte. Die Gründung königlicher Höfe, die teilweise mit der Schaffung von Eigenkirchen einherging, die Gründung einer großen Zahl von Klöstern und die Einsetzung von engen Vertrauten als Bischöfe kennzeichnen das 7. Jahrhundert im Merowingerreich. Um 690 nutzten die Merowinger in Köln Überreste römischer Tempelbauten für ihre Kirchengründungen. Prominentestes Beispiel dafür ist St. Maria im Kapitol, die auf den baulichen Resten eines Tempels, der den Kapitolinischen Gottheiten Jupiter, Juno und Minerva geweiht war, erbaut wurde.

So wäre es auch für Alt St. Martin denkbar, dass die Kirche auf die Zeit der Merowinger zurückgeht, wie dies auch die Funde fränkischer Gräber nahe legen. Borger stellt für Köln jedenfalls fest, dass St. Severin, St. Maria im Kapitol und St. Kunibert im 7. Jahrhundert aus „merowingischen Hofesgewichten“, damit meint Borger Königsgüter im erweiterten Sinne, hervorgegangen sind (Hugo Borger: Zu den Ausgrabungen unter den Kölner Kirchen, in: Stadtspuren, Bd. 1, S. 117). Auch für den Hügel, auf dem St. Pantaleon in Köln erbaut wurde, ist eine römische Villa nachgewiesen, die im 6./7. Jahrhundert als Bestattungsort genutzt wurde, in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts folgte an dieser Stelle der Bau einer einfachen Saalkirche (vgl. Ristow 2009, S. 31 ff., S. 119). Diese Vorgänge machen deutlich, dass es auch für die Muffendorfer Verhältnisse durchaus wahrscheinlich ist, dass römische Bauten oder Baureste an Ort und Stelle weiterverwendet wurden. Das lässt für den Dianastein den Schluss zu, dass genau an der Stelle der Kirche vorher ein Tempelchen existiert hat, das der Jagdgöttin geweiht war.

Es wäre somit naheliegend, wenn der Dianastein bereits im sehr frühen Mittelalter zum Altartisch umfunktioniert worden wäre. Denn seit etwa 1450 fand man antike Spolien (Baureste) so interessant, dass man sie sichtbar machte und nicht vermauert hätte oder bereits in frühe „Kuriositätenkabinette“, Lapidarien o.ä., integriert hätte. Da aber dieser Stein verborgen vermauert war, spricht dies dafür, dass der Dianastein sich im nördlichen Nebenaltar des alten Hauptschiffes befand.

Nun stellt sich die Frage, in welcher Zeit die Umwidmung eines römischen Weihesteines zum Altartisch einen kultisch-spirituellen Sinn gehabt haben könnte? Denn der Dianastein wurde nicht als bedeutungsloses Baumaterial verwendet, sondern als Spolie in den Altartisch, den Ort der Wandlung, eingebaut. Dies kann nur in einer Zeit sinnvoll gewesen sein, in der die antiken Kulte noch erinnert und vielleicht auch noch gefeiert wurden. Also könnte bereits im Zuge der fränkischen Landnahme eine römische „Villa“ mit dem Gedenkstein, der der Göttin Diana geweiht gewesen ist, umgewandelt worden sein in den Hof eines fränkischen Noblen mit einer christlichen Eigenkirche. Sinn würde dies gemacht haben in der Zeit als Theuderich und Theudebert Köln zur Münzstätte erhoben und Ripuarien formten, also etwa um die Mitte des 6. Jahrhunderts. Eine Zeit, in die auch die Grabfunde am Lyngsberg teilweise zu datieren sind (Müssemeier 2004). Ebenfalls sinnreich wäre dies noch gewesen zur Zeit des Bischofs Kunibert von Köln, 7. Jahrhundert (*um 600, †um 664), der über seine Ausbildung in Metz eng mit dem merowingischen Herrscherhaus verbunden war. In diesem Zusammenhang soll auch erwähnt werden, dass sich in Muffendorf die Sage von einem „Heidentempel“, der ehemals an der Stelle der Kirche gelegen haben soll, lange gehalten hat (Dietz, S. 116).

Für einen Königshof (spätestens einen karolingischen) mit Eigenkirche und die Tradition der Rechte desselben spricht in jedem Falle weiter auch, dass die Nonenrechte diejenigen Einkünfte waren, die „dem Stift am leichtesten entfremdet werden konnten“ (Nolden, S. 349). Wenn also das Aachener Marienstift über 800 Jahre regelmässig diese Einkünfte aus Muffendorf bezog, so muss die Kontinuität einen Grund gehabt haben, es müssen Strukturen bestanden haben, die verhinderten, dass hier Entfremdung stattfand. Welche Strukturen hätten dies sein können? Das Königsgut selbst kann über lange Zeit erhalten und bewirtschaftet geblieben sein. Wenn es in einem baulichen Zusammenhang mit der alten St. Martinskirche stand, so wie Maaßen, der vorzügliche Kenner der Bonner Kirchengeschichte (S. 300), dies vermutet, und Strack sich diesem anschließt, muss es sich etwa da befunden haben, wo 1721 westlich vom Turm das alte Pastorat neu aufgebaut wurde. Offenbare Baudetails im Turm der Kirche lassen solche Vermutungen zu. So kann man zwei heute vermauerte rundbogige Türöffnungen in der Nordwand erkennen. Halb in den Wänden vertieft sind Wandvorlagen und Kapitelle zu erkennen, die deutlich machen, dass früher hier andere Bauformen und andere Bauzusammenhänge bestanden. Aber auch hier gilt, dass erst eine genaue zeichnerische Aufnahme erfolgen kann, wenn der Putz entfernt wäre. Dem könnte dann eine bauhistorische Analyse folgen.

Mir hat sich beim Betrachten der vermauerten Rundbögen der Gedanke an die Aachener Pfalzkapelle und die Doppelkirche von Schwarzrheindorf (Weihe 1151) aufgedrängt, die beide durch diese eigenartige Doppelstöckigkeit gekennzeichnet sind. Die obere Öffnung in der nördliche Turmwand könnte also durchaus Zugang zu einer Empore oder etwas Ähnlichem gewesen sein, mit welcher liturgischen Funktion auch immer?

Interessant ist eine alte Grundrisszeichnung, die anlässlich der Restaurierung ab 1910 angefertigt wurde und die bei Strack abgebildet ist (S. 7). Diese Zeichnung entspricht wahrscheinlich genauer dem Bestand als die spätere, idealtypische Grundrisszeichnung des Büros von Kleefisch, das die Sanierung in den 60er Jahren durchgeführt hat. Man erkennt auf der älteren Zeichnung deutlich, dass die einzelnen Bauteile unterschiedliche Mauerstärken aufweisen, dass kaum ein rechter Winkel vorhanden ist, und dass der Turm über enorme Mauerstärken verfügt, die nicht mit den Mauerstärken anderer Bauteile vergleichbar sind. Ich spreche nicht von den später angefügten Basaltstützen, sondern vom mittelalterlichen Mauerwerk. Das spricht für eine große Zahl unterschiedlicher Bauphasen durch die Jahrhunderte hindurch.

Zurück zu den schriftlichen Quellen: Im späten 9. Jahrhundert erscheint eine erste Urkunde, in der Muffendorf Erwähnung findet. Am 13. Juni des Jahres 888 besiegelte König Arnulf von Kärnten (ein Ur-Urenkel Karls des Großen, ab 11.11.887 ostfränkischer König, ab 896 dt. Kaiser) eine Abschrift einer älteren Urkunde Kaiser Lothars II. (*um 835, †8.8.869). Heute gilt diese ältere Urkunde, die zwischen 855 und 869 ausgestellt wurde, als verloren (MGH = Monumenta Germaniae Historica, DD Arn Nr. 31, S. 45). Diese Abschrift bestätigte, dass die „Aachener Nona“, das ist der neunte Teil aller Einkünfte, eine Grundsteuer, von Muffendorf, wie auch von 42 weiteren  Gemeinden, an das Aachener Marienstift zu leisten sei.

„Die Vergabe von Nonen in Aachen durch Lothar II. ist vor dem 13. Jahrhundert die einzige frühe Schenkung von Reichsgut an das Marienstift, für die zugleich auch eine Beurkundung gesichert ist“ (Nolden S. 50). Damit steht fest, dass die Muffendorfer Schenkung aus älterem Reichsgut bestand, also aus kaiserlichem oder königlichem Besitz. Das Aachener Marienstift war seit seiner Gründung durch Karl den Großen eng mit dem karolingischen Herrscherhaus verbunden und ist daher besonders reich ausgestattet worden. Die karolingische Verwaltung hatte also Muffendorf bereits spätestens zu Lebzeiten Lothars II. erfasst. Ein karolingisches Königsgut kann man nach Nolden als sicher für Muffendorf annehmen.

Zumal bereits Helene Wieruszowski 1926 festgestellt hatte (Reichsbesitz und Reichsrechte im Rheinland), dass der Kottenforst rings um Muffendorf zum umfangreichen Waldbesitz bereits der fränkischen Könige gehörte. Erstaunlicherweise zählt Wieruszowski Muffendorf zu den wichtigen Reichsgütern, in einem Zusammenhang mit Oberwesel, Saarbrücken, Deutz und Koblenz. Leider findet sich keine Begründung für die Annahme in ihrem Text, allerdings verweist sie auf ein Manuskript, das beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs (2009) in Mitleidenschaft gezogen wurde, und daher zum jetzigen Zeitpunkt (2013) nicht zugänglich ist. Dies alles macht es aber wahrscheinlich, dass Muffendorf bereits zur ursprünglichen Ausstattung des Marienstiftes gehörte, das Karl der Große gegen Ende des 8. Jahrhunderts im Zusammenhang mit seiner Pfalz in Aachen gegründet hatte. Auch dies kann als ein Indiz dafür gelten, dass Muffendorf bereits um 800 wirtschaftliche Bedeutung besessen hat, also bereits längere Zeit bewirtschaftet gewesen sein muss. Hier spielt die oben erwähnte alte Straße von Muffendorf nach Eckendorf eine Rolle, denn bis ca. 1150 wurden die Abgaben in Naturalien gezahlt, die ja auf Wagen oder Eseln nach Aachen geschafft werden mussten. Noch heute heißt bezeichnenderweise ein Abschnitt der oben erwähnten alten Straße „Am Eselspfad“. Der Aufstieg der niederlothringischen Pfalzgrafen, im Rheinischen besonders die Familie der Ezzonen, hatte zur Folge, dass „um 1000 die vornehmste Laienfamilie hierzulande, altes Königsgut [übernahm]“ (Ennen/Höroldt 1976, S. 32).

Muffendorf zahlte den „Neunten“ (die „Nona“) bis zum Dreißigjährigen Krieg an das Aachener Marienstift (NRKB, S. 129), wenn auch in veränderter Form, denn die ursprüngliche None wurde gegen eine feste Zahlung abgelöst. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts fixierte man die Erträge aus Muffendorf und Vlatten (heute Heimbach-Vlatten). Muffendorf und Vlatten zahlten jeweils vor 1191: 2 Kölnische Mark, 2 Pfund Pfeffer, 2 Handschuhe im Wert von 4 Denaren, 2 Nachtschuhe. Nach 1191 zahlten sie: 8 Mark, im Jahr 1546: 30 Goldgulden, Anfang des 17. Jahrhunderts: 30 Goldgulden (Nolden, S. 262). In Vlatten, heute ein kleines Dorf mit Wasserburg in der Eifel, befand sich eine karolingische Königspfalz, die im 12. Jahrhundert mitsamt dem zugehörigen Wald an die Abtei Siegburg geschenkt wurde.

Wenn man davon ausgeht, dass die ursprüngliche Urkunde Lothars II. etwa um das Jahr 860 ausgestellt wurde, dann sind rund 800 Jahre lang kontinuierlich Erträge aus Muffendorf an das Marienstift geflossen. Im Laufe der mittelalterlichen Geschichte war es offenbar notwendig, dass sich das Aachener Stift diese Rechte immer wieder durch kaiserliche oder königliche Urkunden bestätigen ließ. „So von König Heinrich I. am 5. Juni 930, von Kaiser Otto I. am 16. Februar 966, von Kaiser Friedrich II. im Juni 1226, von Kaiser Rudolf am 24. Oktober 1275, von König Adolf 1292, von König Albrecht 1298“ (Wiedemann, S. 71).

Als interessante Tatsache ist zu werten, dass Muffendorf im Jahr 888 erstmals urkundlich erwähnt wurde, denn für die Geschichte des Frankenreiches stellt dieses Jahr eine bedeutende Zäsur dar. Im Jahr 888 war Karl (der Dicke, *839 † 888) verstorben, dem es für kurze Zeit gelungen war, das Reich Karls des Großen wieder zu einen. Im Jahr 888 kam es dann aber zum Bruch, der das Reich endgültig in ein östliches und ein westliches Machtgefüge trennte. Arnulf von Kärnten strukturierte den östlichen Teil, zu dem auch Ripuarien gehörte. Und im Rahmen dieser Strukturierung wird Muffendorf seiner Abgaben wegen wohl wieder Erwähnung gefunden haben. 913 erscheint die Muffendorfer Kirche dann als Tauschgut in der oben zitierten Urkunde.

Lange hört man dann nichts vom Muffendorfer Kirchlein. Erst Mitte des 12. Jahrhunderts kommt wieder eine Nachricht: 1154 ist ein Streit zwischen Muffendorf und Mehlem aktenkundig geworden, den Wiedemann ausführlich beschreibt (S. 151), wobei es um die zentrale Frage ging, welcher Kirche die älteren Rechte zustehen. (Dazu siehe auch ausführlich Corsten, Severin: Godesberger Kirchen im Liber Valoris, in: Godesberger Heimatblätter 41, S. 27.) Wann die Umwandlung der Kirche von der Fiskal- zur Pfarrkirche stattgefunden hat, ist nicht belegt. 1154 scheint dies aber vollzogen. Die spätere Abhängigkeit von der Mehlemer Pfarre ist den Muffendorfern über Jahrhunderte ein Dorn im Auge gewesen. Betrachtet man die älteste Geschichte der Kirche, so war dies wohl begründet. Im Liber Valoris (um 1300), einem Verzeichnis der außerordentlichen kirchlichen Pfründe im Erzbistum Köln, werden Mehlem und Muffendorf, wie auch die übrigen Godesberger Kirchen, zum Dekanat Ahrgau gezählt. Zur Erinnerung: die „weltliche“ Organisation zählte Muffendorf zum „Bonngau“. Welche Widersprüche und Streitereien mögen sich daraus ergeben haben?

Wir wissen, dass um 1200/1220 ein Umbau oder Neubau von Alt St. Martin stattgefunden hat. Denn in diese Zeit weisen die architektonisch datierbaren Details, wie der Taufstein, die Fenster im Turm, der Altar in der Apsis, die Tür zur Sakristei, die nach Strack vor dem Umbau 1910 aus der Vierung an der Südseite zum Kirchhof geführt hat ( S. 17). Der vermauerte romanische Doppelbogen in der Südwand der Vierung vor der Apsis lässt darauf schließen, dass hier früher einmal ein Ausgang war, wahrscheinlich in der Zeit nach 1200/1220. Wenn diese beiden Bögen nicht eine Bauzier der Sanierungen sind? In der Außenwand ist heute noch eine vermauerte Türe zu erkennen, deren steinerne Schwelle sehr abgetreten ist, die also sehr lange im Gebrauch war. Diese beiden Bögen und die Außentür bilden einen schwierigen Befund, der sich durch bloßen Augenschein nicht auflösen lässt. Jedenfalls scheint die Tür zur Sakristei von der Größe her zu passen, wenn sie genau so angeschlagen war, wie sie heute angebracht ist. Die lichte Öffnung der Außentür beträgt 65 cm, die Holztür zur Sakristei würde mit 70 cm Breite die Öffnung innen gut abgedeckt haben. Wenn die Türe zur Sakristei allgemein dem 13. Jahrhundert zugeordnet wird, muss sie einem anderen Bauzusammenhang (also dieser Öffnung zum Kirchhof) entstammen, da die Sakristei wesentlich später erst angebaut wurde (17. oder 18. Jhdt.).

Was aber dem Umbau von 1200/1220 gelungen ist, ist einen Raum zu schaffen, in dem man sich geborgen und feierlich gehoben zugleich fühlt. Das sucht seinesgleichen. In der Literatur findet man die Vermutung, dass der Neu- oder Ausbau der Kirche um 1200 mit dem Deutschen Orden zu tun haben könnte. Ich halte das nicht für wahrscheinlich, weil der DO erst 1254 in Zusammenhang mit Muffendorf erwähnt wird und vorher hier keine Nachrichten und keine Aktivitäten vorhanden sind.

Um 1200 scheint sich aber das Augenmerk der Kölner Bischöfe auf Godesberg und seine Umgebung gerichtet zu haben. Denn 1210 ist mit dem Bau der Godesburg unter Dietrich von Hengebach begonnen worden. Etwa gleichzeitig baute man an der alten Martinskirche zu Muffendorf.

Dann ist lange nichts Spezielles zur Kirche zu hören, es klafft eine Lücke in der Überlieferung.

Um 1500 aber haben wir bedeutende Schenkungen zu verzeichnen: Aus der frühen Neuzeit hat sich in Muffendorf eine datierte Bronzeglocke erhalten. Sie trägt die Inschrift: „Martinus heischen ich, inde ere marien gotz Moder luden ich, de gewalt des duvels verdriven ich. anno d(omi)ni m v  xiiii “ (Martinus heiße ich, zur Ehre Mariens, Gottes Mutter, läute ich, die Gewalt des Teufels vertreibe ich, Anno Domini 1514). Gegossen hat diese Glocke Meister Johan von Andernach in Köln, sie hat ein Gewicht von 900 kg (laut Bonner Glockenbuch) und befindet sich heute im Turm der neuen St. Martinskirche, wo sie zum wohlklingenden Geläut gehört.

Diese Martinusglocke ist eine der wenigen Glocken des Meisters Johan von Andernach im Erzbistum Köln, die die Zeiten überdauert hat. Und sie stammt aus einer sehr bedeutenden Glockengießerwerkstatt in Köln. Johan von Andernach war einer der produktivsten Meister der Spätgotik in Köln, der 57 Glocken gegossen hat, von denen allein 14 für Kirchen in Köln bestimmt waren. Glocken von seiner Hand finden sich in St. Aposteln, in St. Andreas und in St. Maria im Kapitol in Köln (Poettgen 2005, S. 126 ff.) Es war sicherlich für das frühe 16. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit, wenn ein kleines Dorf wie Muffendorf mit seiner romanischen St. Martinskirche über eine solche Glocke eines bedeutenden Meisters verfügen konnte. Mit dieser Glocke verband sich ein Anspruch, dessen Bedeutung wir heute nicht mehr kennen. Ein Glücksfall, dass sie die Jahrhunderte und Kriege überdauert hat und heute noch mit ihrem hellen Klang weit über das Rheintal zu hören ist. Es bleibt der zukünftigen Forschung vorbehalten herauszufinden, auf welchen Wegen diese wertvolle Glocke ihren Weg nach Muffendorf gefunden hat. Lassen sich die Stifter-Initialen (id und gw) auflösen, wäre man der Lösung dieser Frage ein gutes Stück näher. Ich habe zwar eine Idee dazu, aber noch keine Belege dafür. Vielleicht finde ich dazu eines Tages die passende Archivalie? Was aus den im 14. Jahrhundert erwähnten älteren Glocken von Alt St. Martin geworden ist, ist unbekannt. Möglicherweise sind sie beim Guss der neuen Glocke von 1514 eingeschmolzen worden.

Eine weitere wertvolle Glocke hat sich ebenfalls in Alt St. Martin befunden. Im Jahre 1607 schuf der Glockengiesser Johann Reutter, geboren in Mainz, in Köln als Artillerie- und Rüstmeister tätig, die Marienglocke. Diese Glocke wurde 1899 umgegossen.

Der Glockenspruch lautete:

MARIA HEISSEN ICH
GOTT ZU EHREN LOVDEN ICH
DER KIRCH ZU MOFFENDORF ICH DIN
JOHANN REVTER MICH GOS DJAHIN
A(NNO) 1607
(Maria heiße ich, Gott zu Ehren läute ich, der Kirche zu Muffendorf ich diene, Johann Reuter mich goß (dahin?), Anno 1607). (Nach Giersiepen, Helga: Die Inschriften der Stadt Bonn, Wiesbaden 2000, S. 88.)

Nach Maaßen (II, S. 300) gab es noch eine weitere Glocke von 1633, deren Inschrift lautete:

SANCT MICHAEL UND ANNO HEISH ICH
ZVM DIENST GOTTES DIE GEMEIND BERVF ICH
DIE SVENDER ZVR BYS ERMAHN ICH
ANNO 1633. BERTRAM VON BELLEINCKHAVSEN ABT ZV
SYBERCH POSTVLIRTER ABT UND VUERST ZU FVLDEN.
(Sankt Michael und Anno heiße ich, zum Dienst Gottes die Gemeinde rufe ich, die Sünder zur Buße ermahne ich, Anno 1633, Bertram von Bellinckhausen, Abt zu Siegburg, postulierter Abt und Fürst zu Fulda.) Über die beiden Heiligen, denen diese Glocke geweiht wurde, wird die enge Beziehung Muffendorfs zur Abtei Siegburg verdeutlicht.

Mit diesen Glocken hatte die kleine Kirche über eine für die damalige Zeit schon recht beeindruckende Glockenmusik verfügt. Leider ist über diese Glocken weiter nichts bekannt, bis auf eine sehr hübsche Anekdote, die Dietz in seiner Sagensammlung (S. 116, 117) erwähnt. Da ist die Rede davon, dass die „Burgfrau“ (auch hier wieder die Erwähnung der Burg zu Muffendorf) gekommen sei, und eine ganze Schürze voller Silbertaler in den Glockenguß geschüttet habe. Davon habe die Glocke einen so schönen Klang bekommen, dass die Mehlemer gerne die Muffendorfer Glocken für ihre Kirche erworben hätten, was die Muffendorfer aber mit Vehemenz zu verhindern wußten.

An dieser Stelle nur der kurze Hinweis, dass es auch eine Menge neues zur „Muffendorfer Burg“ gibt, was ich hier aber nicht unterbringen kann, weil wir dann noch morgen hier sitzen würden. Sie können das alles gern nachlesen unter „Geschichte“ auf der Muffendorfseite im Internet.

Zurück zu den Stiftungen um 1500: Nicht nur die wertvolle Martinus-Glocke entstand, sondern auch die Marienklage, die sich heute in der neuen St. Martinskirche befindet und laut Alfred Wiedemann (S. 120) und Paul Clemen (S. 320) aus Alt St. Martin stammt. Dieses Vesperbild zeigt die trauernde Maria mit dem toten Jesus und Johannes, bei den beiden Frauen wird es sich um Maria Magdalena mit dem Salbgefäß und um Anna, die Mutter Mariens, handeln. Um 1500 erlebte der Kult um die Hl. Anna im Rheinland einen Höhepunkt als im Jahre 1500 die Kopfreliquie, aus Mainz gestohlen, nach Aachen verbracht wurde, um dann durch eine päpstliche Bulle im Jahre 1506 nach einem heftigen Rechtsstreit der Erzbischöfe von Köln und Mainz der Stadt Düren zugesprochen zu werden. So zeigt auch dieses Vesperbild, dass die Ereignisse der Zeit sehr wohl wahrgenommen und künstlerisch umgesetzt wurden. Ein weiteres interessantes Detail der Vespergruppe ist die auffallende Wulstschapel mit Gebende (Kinntuch), mit der Maria Magdalena geschmückt ist. Diese Kopfbedeckung wurde häufig im Zusammenhang mit Hochzeitsbräuchen getragen und deutet auf die mythische Hochzeit zwischen Jesus und Maria Magdalena. Ein konzentriertes theologisches Programm, das die wichtigsten Personen aus Jesu Leben um den Leichnam versammelt. Stilistisch weist dieses Vesperbild in die Nähe des Von-Carben-Meisters, der für den Kölner Dom einige Plastiken geschaffen hat, die dort heute noch zu sehen sind. (Für diesen Hinweis danke ich Frau Prof. Dr. Ulrike Bergmann, Bonn .)

Der oder die Stifter der Glocke sowie des Vesperbildes müssen also eine recht enge Verbindung nach Köln gehabt haben und die wesentlichen Künstler der Zeit, die dort tätig waren, gekannt haben oder an sie vermittelt worden sein. So erreichte die große Kunst Kölns sogar das kleine Muffendorf. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die heutigen Reliquien der Kirche auch wieder nach Köln deuten: es sind Reliquien der Hl. Ursula und des Hl. Gereon. Zwei Heilige, deren Legenden gerade für die Geschichte des spätantiken Kölns bedeutend sind. Die enge Verbindung nach Köln wäre auch einer Untersuchung wert. Wann und wie sind die Reliquien nach Muffendorf gekommen?

Das 16., 17., 18. und 19. Jahrhundert hindurch ist Alt St. Martin die Pfarrkirche Muffendorfs geblieben. Eine barocke Ausstattung kündete von angemessenem liturgischen Gebrauch. Es fanden Renovierungen statt, die aber nicht genau zu datieren sind. Auch Strack hat offenbar darüber keine Archivalien gefunden. Die Datierungen schwanken zwischen 1635 und 1747. Für beide Daten gibt es handfeste Gründe. Möglicherweise stimmen beide. Denn es hätten durchaus mehrere Sanierungen stattfinden können. Die barocke Ausstattung, die durch alte Fotos belegt ist, scheint mir aber eher in das 18. Jahrhundert zu deuten, also in Richtung 1747. Nachdem 1721 ein neues Pfarrhaus gebaut worden war, wäre es nur logisch, wenn wenige Jahre später auch die Kirche einer zeitgemäßen Erneuerung unterzogen worden wäre.

Nach der Napoleonischen Zeit scheint die Kirche aber wieder recht verfallen gewesen zu sein. Die barocken Altäre waren noch bis ca. 1910 vorhanden, wurden dann verkauft, weil sie offensichtlich nicht mehr geschätzt wurden. In die neue Martinskirche von 1895 passten sie stilistisch nicht.

Alt St. Martin wurde dann im Zuge der Sanierung (1910) purifiziert und im wesentlichen funktionstüchtig gemacht. Wertvolle Ausstattungsstücke wanderten in die neue Martinskirche. Weitere Sanierungen folgten in den 30er Jahren, dann unter den Architekten Kleefisch in den späten 50er, anfangs der 60er Jahre. Diese Sanierung kann man auch heute noch als sehr gelungen bezeichnen. Pfarrer Dr. Wilhelm Graf (verstorben 1981) begleitete die Arbeiten mit liebevoller Zuwendung und Kontrolle, und er ist mitsamt seiner Aktentasche ja auch in einem der neuen Fenster des Glasmalers Franz Pauli abgebildet. Ein großes Glück war es außerdem, dass der romanische Taufstein wieder aus dem Garten der Kommende, wo er als Pflanzgefäß diente, zurückfand in die Kirche.

Dass diese neuzeitlichen Jahrhunderte hier so kurz abgehandelt werden, liegt daran, dass ich das Augenmerk auf die Fragestellungen zur mittelalterlichen Geschichte gelegt habe. Und ganz wesentliche Informationen zur Neuzeit liefert ja auch schon Strack. Das ist alles bekannt.

Dass Alt St. Martin die Jahrhunderte, wahrscheinlich sogar mehr als ein Jahrtausend, wenn auch nicht in dieser Form, wie sie sich heute präsentiert, überstanden hat, ist sicher vielen glücklichen Fügungen zu danken. Und vielen Menschen, denen diese Kirche viel bedeutet hat. Eine barocke Inschrift auf dem Bogen zur Vierung besagte: „Vere locus iste Sanctus est“, was heißt: Dieser Ort ist wahrhaftig heilig. Auch dies ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass den Menschen im 17. /18. Jahrhundert die lange Geschichte der Kirche bekannt war. Nicht zuletzt deshalb, weil die mündliche Tradierung von Geschichten und Geschichte viel lebhafter war als heute.

Im Zweiten Weltkrieg bestand einmal höchste Gefahr für Alt St. Martin, wie mir ein Augenzeuge berichtet hat. Eine Fliegerbombe war im Kirchweingarten eingeschlagen, nicht explodiert, hochgesprungen und in hohem Bogen über das Kirchendach geflogen, wieder aufgeschlagen ohne zu explodieren und ist dann liegengeblieben. Zwei mutige Männer haben die Bombe auf einer Schürreskarre zum nächsten Sprengplatz gefahren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Bombe hier eingeschlagen und explodiert wäre.

Es war wohl ein kleines Wunder!

Heute ist die Kirche durch die neu erworbene Orgel wunderbar komplettiert. Und sie ist wirklich ein Kleinod im Reigen der romanischen Kirchen des Rheinlands. Zwar fernab der romanischen Kirchen Kölns, aber dennoch dem Wesen und ihrer Geschichte nach eng mit ihnen verbunden.

Zum Schluss soll noch einmal an das Zitat Nr. 2 erinnert werden: „Die alte (Muffendorfer) Kirche ist eine der ältesten des Rheinlands“. (German Hubert Christian Maaßen, Geschichte der Pfarreien des Dekanates Bonn, 1898, Bd. II, S. 299).

Was das bedeutet, habe ich versucht darzulegen.

Man kann Maaßen wohl nur zustimmen, wenn man in Betracht zieht, dass es durchaus Argumente gibt, die Entstehungszeit der Kirche bis in das 6. Jahrhundert zurück zu verfolgen. Sicherheit über die frühmittelalterliche Geschichte der Kirche werden wir aber wohl nur erlangen, wenn eines Tages geordnete Grabungen und bauarchäologische Untersuchungen stattfinden können.

Zusammen mit dem liebevoll sanierten Ensemble der Fachwerkhöfe rings um die Kirche bietet dieser Teil des Dorfes eine Attraktion, wie sie im gesamten Rheinland nur selten zu finden ist. Das ist wahrhaftig ein Glücksfall für Bonn.

Weiteres unter: www.Muffendorf.net/geschichte

Literatur:

Becher, Matthias: Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011, siehe auch Rheinisches Geschichtsportal

Bonner Glockenbuch

Borger, Hugo: Zu den Ausgrabungen unter den Kölner Kirchen, In. Stadtspuren Köln, Bd. 1, S. 117

Corsten, Severin: Rheinische Adelsherrschaft im ersten Jahrtausend, in: Rheinische Vierteljahresblätter 1963, Bd. 28, S. 84 – 130

Corsten, Severin: Godesberger Kirchen im Liber Valoris, in: Godesberger Heimatblätter 41, S. 27

Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, NRW 1, München 2005

Dietmar, Carl/Trier, Marcus: COLONIA – Stadt der Franken, Köln 2011

Dietz, Josef: Sagen und Geschichten aus Godesberg-Muffendorf, in: Godesberger Heimatblätter 12, 1974, S. 112 ff.

Ennen, Edith und Höroldt, Dietrich: Vom Römerkastell zur Bundeshauptstadt, 3. Aufl. Bonn 1976

Ewig, Eugen: Die Stellung Ribuariens in der Verfassungsgeschichte des Merowingerreichs, Bonn 1969

Ewig, Eugen: Die Merowinger und das Frankenreich, Stuttgart, Berlin, Köln 1993

Giersiepen, Helga: Die Inschriften der Stadt Bonn, Wiesbaden 2000

Groeteken, Friedrich Albert: Geschichte Godesbergs am Rhein und seines Raumes – Von der Steinzeit bis Karl dem Großen, 4000 vor Chr. bis 800 nach Chr., II. Die Zeit der Römer, Bad Godesberg 1956

Hofmeister, Ph.: Archiv für katholisches Kirchenrecht, zit. nach Stadtspuren Köln, Bd. 1, S. 344

Maaßen, German Hubert Christian: Geschichte der Pfarreien des Dekanates Bonn, 1898, Bd. I, II

MGH: Monumenta Germaniae Historica, DD Arn Nr. 31, S. 45

Müssemeier, Ulrike: Die merowingerzeitlichen Funde aus der Stadt Bonn und ihrem Umland , dig. Diss. Bonn 2004

Nolden, Reiner: Besitzungen und Einkünfte des Aachener Marienstifts von seinen Anfängen bis zum Ende des Ancien Régime, in: ZS des Aachener Geschichtsvereins, Bd.86/87, 1979/80, S. 1- 456

Nordrheinisches Klosterbuch (NRKB), Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815, Teil 1 Aachen bis Düren, Siegburg 2009

Ostrowski, Ursel: Evangelische Kirche zu Breidenbach, Breidenbach 2000

Poettgen, Jörg: 700 Jahre Glockenguss in Köln. Meister und Werkstätten zwischen 1100 und 1800, LVR, Worms 2005

Rave, Paul Ortwin: Romanische Baukunst am Rhein, Bonn 1922

Rey, Manfred van: Bonner Stadtgeschichte kurzgefasst – Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Bonn 2001

Ristow, Sebastian: Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln, Archäologie und Geschichte von römischer bis in karolingisch-ottonische Zeit, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters hrsg. von S. Brather, U. Müller und H. Steuer, Beiheft 21, Bonn 2009

Strack, Herbert: Die alte Sankt-Martins-Kirche zu Muffendorf, VHH Bonn Bad Godesberg, 2. Aufl. 1999

Wiedemann, Alfred: Geschichte Godesbergs und seiner Umgebung, Bad Godesberg 1930

Wieruszowski, Helene: Reichsbesitz und Reichsrechte im Rheinland, 1926